Mittwoch, 13. Oktober 2010

Erster Schnee

Nach einem höllischen Sommer versprechen die Meteorologen den Moskauern einen harten Winter. Und der geht schon los: Heute morgen ziehe ich die Vorhänge zurück, und siehe da - SCHNEE! Er blieb bloß auf den Blättern der Bäume liegen, nicht auf dem Boden. Aber in der Luft sind feine Flocken gewirbelt! Gut, dass ich mir in auf dem Goldenen Ring in Wladimir einen Mantel gekauft habe. Nur wegen Schuhwerk muss ich jetzt wohl in den sauren Apfel beißen und mir teure Stiefel kaufen. Ich hatte gehofft, meine Papp-Schuhe halten noch zwei Wochen.

Ansonsten bin ich ab heute abend unterwegs: Es geht auf die andere Seite des Polarkreises, nach Murmansk. Mit dem Zug. Ich stelle mir vor, dass es dort landschaftlich ganz unglaublich schön ist.

Montag, 4. Oktober 2010

Und Deutsch?

Ein strahlend schöner Herbstnachmittag, Bewohner meines Hauses stehen und sitzen vorm Eingang, unterhalten sich über dies und das. Schwungvoll rolle ich mit meinem großen Koffer - Teil eines Dreiersets, treue Blogleser werden sich erinnern - um die Ecke: "Guten Tag!" Ich bin zurück aus dem Westen, daher wieder mit Ohrstöpseln unterwegs. "Guten Tag" sage ich immer, denn hier ist Nachbarschaft Trumpf. Gedämpft höre ich eine Frauenstimme, nehme die Stöpsel raus, gucke sie fragend an. Sie wiederholt: "Kommen Sie vom Flughafen?"
"Ja."
"Ach, haben Sie Urlaub gemacht?"
"Naja, sozusagen. Ich war ein paar Tage in Deutschland."
"Oh, und wie ist es da?"
"Nicht so kalt wie hier."
"In welcher Stadt waren Sie denn?"
"In Bremen."
"In einem Hotel?"
"Nein, ich war bei meiner Mutter."

- Pause -

"Bei Ihrer Mutter?"
"Ja."
"Wohnt die da?"
"Ja, klar!"
Irritierter Blick: "Schon lange?"
Ich muss grinsen, sage nichts.
"Spricht Ihre Mutter denn gut Deutsch?"
"Naja, sie ist Deutsche."
Wieder Pause.
"Und Sie?", fragt die Frau weiter, "sprechen Sie denn auch... problemlos Deutsch?"
Jetzt muss ich wirklich lachen und erkläre den Hausbewohnern, dass ich viel besser Deutsch spreche als Russisch, weil Deutsch meine Muttersprache ist. Weil ich jetzt etwas mehr gesprochen habe, hören die Leute auch Akzent und sicherlich irgendwelche Fehler. Sie sagen nichts mehr, also verabschiede ich mich und rolle meinen Koffer ins Haus.

Zwei Minuten später komme ich wieder raus, weil ich noch einkaufen muss. Auf dem Rückweg vom Dixi-Markt sprechen die Hausbewohner mich wieder an:
"Entschuldigung, dürfen wir Ihnen eine Frage stellen?" Ein mittelalter Mann sagt das.
"Sicher."
"Wie ist das Leben so in Deutschland?"
Ich überlege kurz. "Naja, es ist einfacher als hier."
"Inwiefern?"
"Hm, also Essen ist genauso teuer. Aber die Löhne sind höher. Alle haben Krankenversicherung."
"Aha, alle haben also mehr Geld."
"Ja-nee, nicht direkt. Die Mieten sind viel, viel höher."
"Das habe ich auch gehört", sagt der Mann. "Bis zu 50 Prozent des Einkommens, oder?"
So ungefähr, sage ich.
Weiter geht's mit den üblichen Eckdaten über meine Heimat: Durchschnittlohn, Durchschnittsrente, Steuersatz.
"Stimmt es", fragt der Mann mich, "dass die Leute in Ostdeutschland - Sie wissen schon, Ostdeutschland, das mal DDR war, zur Sowjetunion -, stimmt es, dass die ihr altes Land zurückhaben wollen? Dass es ein Referendum geben soll?"

Meine Frage an Euch: Ist die Titanic-PARTEI ihrem Ziel einen Schritt nähergerückt? Habe ich etwas verpasst?

Ich habe zu dem Mann gesagt, dass manche sich sicherlich die DDR zurückwünschen, die meisten aber meines Wissens nicht. Vielleicht sind die 20-Jahre-Deutschland-Hurrafeiern irgendwie in verfremdetem Kontext in die russischen Medien gelangt? Bevor ich ansetzen kann, von der Einheitsfeierei zu erzählen, fängt der Mann wieder mit dem Referendum an. Dass hier auch so etwas geplant sei. Im Nachhinein ärgere ich mich ein bisschen, dass ich da nicht weiter nachgehakt habe. Kommt die Sowjetunion wieder? Das Gespräch ist irgendwie anders abgedriftet.

Mittwoch, 29. September 2010

Aufm Dorf

Am vergangenen Wochenende war ich mit einer Freundin aufm Dorf. Wir haben bei ihrer Großtante gewohnt in einem rumpeligen, gemütlichen kleinen Haus an der Wolga.

In diesem sehr urigen Häuschen haben wir gewohnt.

Wasser gab's im Brunnen, gewaschen wurde sich im Garten, das Klo war außerhalb. Drei Katzen, ein Hund und jede Menge Ruhe. Geheizt wurde mit einem riesigen alten Ofen.

Dieser Ofen hat ganz wunderbar geheizt. In dem viereckigen Loch ist eine Herdplatte, weil darunter das Feuer brennt.

Die Alten in dem Dorf sind fast alle gestorben, die Jungen ziehen in die Stadt, zur Arbeit. Müde, windschiefe alte Holzhäuser verfallen entlang der Sandstraße, an der das Dorf liegt. Daneben bauen reiche Moskauer sich regelrechte Villen mit Blick auf die Wolga. Sie kommen am Wochenende wie auf die Datscha, dann wohnen sie hinter zwei Meter hohen blickdichten Zäunen. Aber ich will nicht über irgendwelche Entwicklungen meckern, von denen ich doch recht wenig verstehe. Mein Wochenende war toll: Ich habe mir den Bauch vollgeschlagen mit Hausmannskost, ein alienhaft anumtendes Getränkt probiert,

Dieses Getränk, das es schon in der Sowjetunion gab, heißt "Tarakun". Es schmeckt nach einer Mischung aus Waldmeister und Zahnarzt.

mich in mondklarer Nacht am Wolgaufer am Feuer gewärmt,

Bei Mondschein ist es ganz schön kalt am Wolgaufer. Aber Feuer wärmt. Zwischendurch sind immer wieder Fracht- und Flusskreuzfahrtschiffe vorbeigefahren.

anschließend das lang ersehnte Schaschlik gegessen,

Ich esse ja kaum Fleisch. Aber wenn, dann richtig.

habe zum Ausgleich Dehnübungen gemacht,

Die Wolga ist ein inspirierender Fluss. Ich versuche, die Hausmannskost aus dem Bauch zu dehnen.

bin heldenhaft quer über die Wolga gerudert (stimmt nicht ganz),

Sicher, aber wegen schlechter Gummistiefel nassen Fußes auf der anderen Wolgaseite angekommen. Die Füße trocknen dann in der Sonne, während wir uns für die Rückfahrt mit mitgebrachtem Fisch stärken.

habe dabei im kleinen Ruderboot erst einen Frachter, dann ein Flusskreuzfahrtschiff vorbeifahren sehen (hatte ICH SCHISS!!),

In gefühlten fünf Metern Nähe ist erst ein Frachter, dann ein Flusskreuzfahrtschiff an unserem Ruderboot vorbeigefahren. Fürchtet Euch nicht: Ich war mit Einheimischen unterwegs. Die wissen, wo die Straße ist und wo der Bürgersteig. Die schippern da von Kleinauf quasi jeden Tag auf Fischfang rum.

habe das Spätnachmittagslicht auf der Wolga bewundert,

Ein später Nachmittag Ende September auf der Wolga

bin in einem uralten, sehr eigenwilligen sowjetischen Auto über sandige Buckelpisten im Niemandsland geheizt,

In einem alten, eigenwilligen Auto bin ich am Arsch der Welt über Stock und Stein gefahren. Es hat unglaublich Laune gemacht, ich wollte gar nicht mehr aufhören!

auf einer Schaukel für Mutige geschaukelt,

Diese Schaukel hing einfach im Wald rum: Ein Brett, das an den Rändern eingekerbt war, damit das Seil nicht so leicht abrutscht. Die Schaukel hat beunruhigende Geräusche gemacht.

habe mich im Angeln geübt,

Eine Angel richtig auszuwerfen ist nicht so einfach, wie es aussieht. Ich habe aber durchaus Talent. Angebissen hat allerdings nix.

und die Abendstimmung genossen.

Abendstimmung

Im Wald wäre ich beinahe in ein Spinnennetz gelaufen.

Schockschwerenot, die wilde Natur: Um ein Haar wäre ich im Wald in ein großes Spinnennetz gelaufen. Anschließend war ich aufmerksamer, was meine achtbeinigen Freunde angeht, und habe dieses Exemplar fotografiert.

Außerdem war ich auf einem Waldfriedhof. Ich war sehr angetan: Die Orthodoxen gehen davon aus, dass man den Toten näher ist und besser an sie denken kann, wenn man dabei etwas isst und trinkt. Deshalb sind auf vielen der umzäunten Einzelgräber Tische und Bänke montiert. Da sitzen dann die Leute, unterhalten sich, essen, trinken und gedenken ihrer Toten. Außerdem tun die Leute kaum echte Blumen auf die Gräber, sondern Kunstblumen. Dadurch ist der ganze Friedhof ziemlich bunt.

Donnerstag, 23. September 2010

Fettes Volksspektakel

Mit dem Goldenen Ring komme ich irgendwie noch nicht weiter. Es war zu beeindruckend, um einfach so darüber zu schreiben. Hier deshalb ein Bericht über ein Ereignis, das einen knappen Monat zurückliegt.

Kriegsspektakel westlich von Moskau: In Borodino wird von den Dorfbewohnern einmal im Jahr die historische Schlacht gegen Napoleon nachgestellt.

Was wie ein Ort am Gardasee klingt, in dem man rotweinschlürfend die Seele baumeln lassen kann, ist in Wirklichkeit ein blutiger Meilenstein der russischen Geschichte: In Borodino, einem Dorf rund 120 Kilometer westlich von Moskau, hat die russische Armee unter General Kutusow einst im Vaterländischen Krieg Napoleons Feldzug aufgehalten. Genauer: Ist von der Grande Armée besiegt worden, nach Moskau geflüchtet, hat die Stadt in Brand gesteckt und ist abgehauen. Die Franzosen marschierten nach Moskau, aber der Winter kam, und jene, die nicht in der Schlacht gefallen oder anschließend erfroren waren, zogen sich dahin zurück, wo sie hergekommen waren.* Wie viele Leute nach den zweitägigen Kämpfen Anfang September 1812 tot waren, weiß man nicht genau. 120 000 Russen hatten gegen 130 000 Franzosen gekämpft, unterschiedliche Quellen sprechen von 24 000 bis 58 000 Toten pro Seite. Auch 35 000 Pferde haben das Zeitliche gesegnet, die Kavallerie musste teilweise zu Fuß weitermachen. Zehn Quadratkilometer sanfte, satt grüne Hügellandschaft: Die Redensart „es sieht aus wie auf dem Schlachtfeld“ muss hier im wörtlichen Sinne angewendet worden sein können.

Historische Reiter lenken ihre Pferde in Richtung des Gefallenen-Denkmals

Obwohl immer wieder damit konfrontiert, kann ich die Kriegsbegeisterung der Russen nicht nachvollziehen.

Schon wer klein ist und mal ein Mann wird, übt sich im Schützengraben. Mama dokumentiert's.

Im Vaterländischen und im Großen Vaterländischen Krieg ging es darum, so viel verstehe ich, die Heimat gegen Eindringlinge zu verteidigen. In beiden Fällen ist das unter riesigen Opfern gelungen. (Der Zweite Weltkrieg habe auf sowjetischer Seite rund 40 Millionen Menschenleben gefordert, habe ich oft gehört. Andere Zahlen sind niedriger, liegen aber immer noch bei 20 oder 25 Millionen Toten, darunter viele Zivilisten.) Die Kombination von erfolgreich verteidigter Heimat und schmerzlichem Verlust ist, das ist meine Wahrnehmung, in das russische Nationalgedächtnis und Selbstverständnis eingegangen. Soldaten sind Helden, und über Orte, Daten und Verläufe von Schlachten weiß man gut Bescheid. Wenn vom Krieg die Rede ist, schwingt meistens eine feierliche Stimmung mit.

Das ist wohl ungefähr der Hintergrund, weswegen die Borodiner die 200 Jahre zurückliegende Schlacht gegen Napoleon inszenieren, ähnlich wie die Oberammergauer das Leiden Christi. Nicht gleich hundert Mal hintereinander, sondern nur einmal. Aber dafür jedes Jahr.

Der „Tag Borodinos“ ist ein Volksfest, zu dem Tausende Zuschauer strömen.

Viele Leute waren zu Fuß unterwegs, um sich die nachgestellte Schlacht anzugucken.

Mit der Elektritschka zwei Stunden aus Moskau raus, dann zu Fuß oder mit dem Bus durch grüne, hügelige Landschaft zum Ort des Spektakels. Am Gefallenen-Denkmal spielt Kriegsmusik, Bläser in historischen Kostümen marschieren, und an zahllosen, schnell entlang der Straße aufgebauten Ständen gibt es Zinnsoldaten und anderen Tand zu kaufen.

Das Interesse an Zinnsoldaten ist rege. Im Hintergrund Luftballons. Nicht im Bild, aber um die Ecke: Hüpfburgen für Kinder.

Musiker marschieren feierlich

Damit die lieben Kleinen sich bis zum Beginn des Gemetzels nicht langweilen, stehen Hüpfburgen, röhnradartige aufblasbare Plastikkugeln und andere Attraktionen bereit.

Die Schlacht selbst findet, damit der geneigte Zuschauer auch alles sieht, nicht im gesamten weitläufigen Gelände statt, sondern auf einer vielleicht 500 Meter breiten Ebene, entlang derer Hügel eine gute Zuschauertribüne bilden. Man betritt diese natürliche Tribüne von der Straße aus durch Metalldetektoren. Gleich reiht sich Schaschlikstand an Schaschlikstand. Die Leute sitzen auf Bierbänken an Biertischen und stärken sich für das Spektakel.

Zu einem Volksfest gehört Fleisch.

Essen fassen

Irgendwann begrüßt ein Mann über Mikrophon die Anwesenden, und in einer langen Prozedur halten die Schlachtteilnehmer unten auf der Ebene Einzug. Fußsoldaten, Kavallerie, alle bunt in verschiedenen historischen Kostümen. Der Mikrophonmann stellt sie alle vor. Einzelne russische Einheiten bejubelt das Publikum, das auf den Grashängen von seinen Decken aufgestanden ist.

Und dann geht es los. Mit lautem "puff" "paff" und "buff" schießen „Russen“ und „Franzosen“ mit großen Kanonen aufeinander, galoppieren auf ihren Pferden wild umher, werden in Kämpfe verwickelt, fallen tot um und stecken strohgedeckte Häuschen in Brand.

Die Infanterie am Start

Was gerade genau passiert, erläutert vor dem Hintergrund klassischer Musik der Mikrophonmann: „Die Einheit von Marschall Davout kommt von Westen durch den Wald“, oder so ähnlich. Eine Stunde lang stopfen die „Soldaten“ die Kanonen immer wieder von neuem und schießen damit Rauchringe in die Luft, eine Stunde lang explodieren „Granaten“ und wirbeln Gras und Erde auf. Dann fällt einer vom Pferd (General Kutusow?), und das Spektakel ist zu Ende. Die Laienschauspieler, alles Borodiner oder Mitglieder historischer Vereine der weiteren Umgebung, werden ausgiebig beklatscht, und die meisten Leute machen sich in Richtung nach Hause auf.

Der Brüller war das Folgeprogramm, das verhindern sollte, dass alle gleichzeitig zum Bahnhof strömen: Die Moskauer Miliz gab zu den Klängen von Rammsteins "Sehnsucht" eine Nahkampf-Schau zum Besten. Zonk-Ponk, auf die Fresse, und durch die Luft gewirbelt sind sie. Auf den Gesichtern vieler derer, die noch dageblieben waren, erkannte ich ein feines Grinsen.

Die Moskauer Miliz lieferte eine beeindruckende Vorstellung.

* Irgendwie variieren hier die Angaben zu den Ereignissen direkt nach Schlachtende in unterschiedlichen Reiseführern und verschiedensprachigen Wikipedias. Je nach Version haben die Moskauer selbst oder die Armee die Stadt angezündet, die Russen die Schlacht im Prinzip gewonnen, die Franzosen Moskau angezündet, nachdem sie sich, weil es kalt wurde, nach Frankreich zurückgezogen hatten. Ich finde die von mir gewählte Version einfach am besten. Außerdem ist sie logisch: Schlacht verloren, also weglaufen und alles kaputtmachen, damit der Feind nix kriegt.

Historischer Mann mit historischer Frau. Die historische Frau ist wenige Meter später abgestiegen, weil ihr der olle Damensitz wohl doch nicht ganz behagt hat.

Montag, 20. September 2010

Rostow Welikij I

Gerade komme ich von einem viertägigen Ausflug zurück, will meine Eindrücke schildern - und weiß nicht, wo ich anfangen soll, und wie ich das beschreiben soll, was ich gesehen und erlebt habe.

Von hinten aufrollen geht wohl an Besten, denn die Bilder von heute sind die frischesten. Rostow Welikij hat allem, was uns in den drei vorangegangenen Tagen schwer beeindruckt hat, die Krone aufgesetzt. Dabei hatten wir gestern Abend in Jaroslawl überlegt, gleich nach Moskau zurückzufahren: Kaputt (die Nacht zuvor bis um halb vier in einer fürchterlichen Disko gewesen), und auf mich wartet viel Arbeit unterschiedlicher Natur. Nur, weil wir noch eine billige Absteige am Jaroslawler Busbahnhof gefunden haben, sind wir überhaupt geblieben. Bis kurz vor Mitternacht haben wir Domino gespielt, Bier getrunken und Fernost-Fisch gegessen, heut morgen um neun sind wir mit dem Minibus los. Als einzige zwei Passagiere, auf den beiden Sitzen ganz vorne neben dem Fahrer, eine Dreiviertelstunde mit bestem Ausblick bei sonnigem Weeter nach Süden Richtung Moskau.

Vom Rostower Busbahnhof sind es zehn, 20 Minuten zu Fuß ins Zentrum. Rostow ist eine uralte Stadt, gegründet im 9. Jahrhundert, und eine der Drehscheiben (alt)russischer Kulturgeschichte - genau wie Wladimir, Susdal und Jaroslawl, die anderen Städte, in denen wir seit Freitag Morgen waren. Vom Busbahnhof zum Zentrum läuft man in Rostow einfach immer eine einzige Straße entlang. Es fahren praktisch keine Autos, es ist ruhig und sonnig, die Luft riecht frisch und nach Herbst. Im Schatten ist es noch richtig kühl, also wechseln wir auf die Sonnenseite der Straße. Zwischen Gehweg und Straße verlaufen Grünstreifen voller Büsche und Bäume, deren Blätter oft schon gelb, rot und golden in der Sonne leuchten. Straße und Wege sind schon von heruntergefallenen Blättern bedeckt. Überall leuchtet es herbstlich, dazwischen hält sich noch das Grün des Sommers. Die Häuser links und rechts der Straße sind niedrig, höchstens zwei oder drei Stockwerke. Es gibt moderne Bauten mit verspiegelten Fenstern, vor allem aber ganz viele kleine Holzhäuser mit spielerischen Schnitzereien rund um die Fenster. Die Häuschen sind manchmal ein bisschen rumpelig und windschief aus angenagt wirkendem Holz und in mattem, altem Farbton, und manchmal schnieke rausgeputzt, ganz leuchtend und ordentlich.

Wir überqueren eine Kreuzung, passieren das obligatorische Lenin-Denkmal. Gegenüber eine Wiese vor herbstlich leuchtenden Bäumen - und hinter diesen Bäumen sehen wir, vielleicht 500 Meter vor uns, etwa ein halbes Dutzend zwiebelförmige Kuppeln: Die Kirchen des Rostower Kremls.

Diese Kuppeln, sie sind vor dem knallblauen Himmel leuchtend grau (aber nicht silbern!), gucken wir uns noch ein Weilchen an, während wir ein Stückchen weiter auf einer Bank in der Sonne zum Frühstück picknicken. Weißbrot mit Schmierkäse oder Wurst, dazu Kefir, Banane, Schokoloade. Zwischen uns und den mittlerweile gut zehn Kuppeln - von den Kirchen sind bisher nur Teile der Türme zu sehen - herrscht müdes Treiben: Alle paar Minuten kommt ein Bus auf den asphaltierten Platz gefahren und eine Handvoll Menschen tröpfelt hinaus. Leute mit Taschen und Plastiktüten in den Händen durchqueren das Blickfeld, verschwinden in Bussen, in dem kleinen Geschäft hinter uns oder die Straße hinauf, die links vor uns liegt. Die Straße, an der kleine Geschäfte liegen, die weiter in das dörfliche Städtchen hineinführt.

Nachdem wir dieser Straße gefolgt und durch das rumpelige Städtchen voller charmiger Steinhäuschen mit bunten Lädchen gegangen waren, hat es uns im Kreml die Sprache verschlagen. Wie das war, versuche ich morgen zu beschreiben.

Dienstag, 14. September 2010

Spezial: Piroggen*

Was eine Pirogge ist, weiß ich trotz einem Jahr Wladiwostok und mehreren kürzeren Russlandaufenthalten immer noch nicht genau.

In Wagen wie diesem, aber auch in Restaurants und an kleinen Buden werden Piroggen verkauft

Piroggen, das weiß ich, sind Teigtaschen. Aber was ist eine Teigtasche? Eine Teigtasche ist auch das, was die Mutter einer Freundin mir vor Jahren im Schwarzwald serviert hat. Noch bevor ich überhaupt jemals in Russland war. Auch in Bayern habe ich Teigtaschen gegessen. Und im Norden sowieso. Was also macht die Pirogge aus? Mein geballtes Nichtwissen führte ich mir vor kurzem selbst ungwollt in folgendem Dialog vor Augen, als auf der Bahnstrecke von St. Petersburg nach Moskau ein Halt angesagt war, bei dem Babuschkas rund um einen Provinzbahnhof Selbstgemachtes verkauften:
Babuschkas (sinngemäß): '"Günstig, günstig, kaufen Sie hier! Warmes, Kaltes, Snacks, Wasser und Bier!"
Ich: "Was kostet denn ein Stakantschik?" (Das ist ein Eis)
Babuschka: "20 Rubel."
Das entspricht etwa 50 Cent und ist ein feiner Preis dafür, dass das Eis direkt an der Zugtür serviert wird.
"Und diese Brötchen da", frage ich weiter, "was kosten die?", und zeige auf so Brötchen.
"Was?" Ein Blick, als ob ich durch gezielten Einsatz von Nichtiwssen provozieren wolle.
""Na, da, das hier da." Ich deute immer noch mit dem Finger auf diese Brötchen. "Was kostet das?"
"ACH, PIROSCHKI!" Piroschki haben 40 gekostet. Bloß, ich hab gedacht: Wieso sind DAS denn jetzt Piroggen?? Das sind doch 08/15 Brötchen mit was drin!

Hier Piroggen: Links mit Fleischfüllung, rechts mit Kartoffel-Pilz-Füllung

Piroggen sind in Russland eigentlich auch 08/15 Brötchen mit was drin. Vegetarier können dabei zwischen Kohlfüllung und Kartoffel-Pilz-Füllung wählen, wenn sie etwas Herzhaftes suchen. An Süßem gibt es allerlei marmeladige Fruchtfüllungen. Leute, die Fleisch essen, müssen sich zwischen "Huhn" und "Fleisch" entscheiden. Was genau "Fleisch" ist, weiß ich nicht. Es wird, ähnlich wie beim Tscheburek, irgendeine zu Hackfleisch verarbeitete Restepampe aus Augen, Haaren und Hufen unglücklicher Tiere sein. Schmeckt lecker, nur bleibt's mir derzeit irgendwie im Halse stecken. Auf Wunsch wird die gekaufte Pirogge für einige Sekunden in die Mikrowelle gesteckt, sodass man für günstiges Geld einen schnellen warmen Snack hat. Man isst sie mit der Hand.

Hier Slojki: Links mit Huhn und Käse, rechts mit Schinken und Käse

Neben der Pirogge gibt es häufig noch die "Slojka". Größe und Füllungen sind ähnlich, aber eine "Slojka" besteht aus Blätterteig, während die Pirogge aus - - - normalem Teig gemacht ist.

Dies ist eine Pirogge mit Kirschfüllung. Wahlweise gibt es alle möglichen anderen Früchte, Fleisch, Kohl, Kartoffeln, Pilze, Huhn oder auch Fisch innendrin. Und Käse, oder Schinken.

Die Polen ticken anders als die Russen. Bei ihnen kann man "russische Piroggen" kaufen. Das ist dann aber nicht das, was in Russland "Pirogge" heißt. Das ist dann sowas wie Maultaschen, aber kleiner. So gedreht wie Tortellini oder zusammengeklappt wie eine Calzone. Man muss polnische "russische Piroggen" kochen, bevor man sie isst. Polnische "russische Piroggen" heißen in Russland Pelmeni, wenn sie so groß sind wie Tortellini. Wenn sie etwas größer sind: "Wareniki". "Wareniki" sind nicht zu verwechseln mit "Warenje". "Warenje" sind mit viel Zucker eingekochte Früchte, wie Marmelade.

Ich unterwegs in Sachen Piroggen: Eine Schickimickipirogge im Restaurant. Nicht einfache Brötchen, sondern aus riesigen Torten stückweise herausgeschnitten.

Aus informierter Quelle habe ich jetzt - das angefangene Piroggen-Spezial ist schon seit einigen Tagen offline gespeichtert - neue Teigtascheninfos: Pelmeni und Wareniki unterscheiden sich nicht nach der Größe, sondern nach dem Inhalt. Pelmeniki sind mit Fleich, Wareniki nicht. Allerdings bin ich mir sicher, auch schon Wareniki mit Fleisch und Pelmeni mit Pilzen gegessen zu haben...

Leute kaufen Schickimickipiroggen in einem Restaurant, dass nicht zu unrecht "sehr leckere Piroggen" zu servieren verspricht. Aus riesigen Piroggentorten werden die Stücke rausgeschnitten; die Auswahl ist immens

* "Pirog " und "Piroschok" (=pl. Pirogi, Piroschki, mit "sch" wie in "Journal") nehmen sich nicht viel. Der einfache Diminutiv ist im Russichen eigentlich Standard. Betonung bei "Pirog", "Pirogi", "Piroschog" und "Piroschki" immer auf der letzten Silbe.

Freitag, 10. September 2010

Bibliotheken II

Vor der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg stehen Alte Griechen.

In die Bibliothek geht man in Petersburg so: Mit dem Ausweis zu Wachleuten. Die händigen einen Laufzettel aus. Mit Laufzettel und Ausweis vorbei an einem Scanner - der Ausweis hat nen Strichcode - zum elektronischen Katalog. Bücher finden. Für jedes gewünschte Buch einen kleinen Papierzettel ausfüllen: Buchtitel, Autor, Seriennummer in der Bibliothek, eigener Name, Bibliotheksausweisnummer. Datum nicht vergessen! (Gibt sonst Umstände.) Mit den gesammelten Zetteln an einen Tresen, da ist die Ausleihe. Unbedingt auch auf dem Laufzettel die Ausweisnummer und den Namen eingetragen haben!! Eine Frau nimmt dann die Zettelwirtschaft an sich, sortiert, tut und macht. Allerdings sind nicht alle Bücher an genau diesem Tresen zu bestellen, für manche muss man auch in andere Abteilungen und Stockwerke. Ich denke, mit der Zeit verliert das aber seine Wunderlichkeit. Gut: Nach zwei Stunden kann man die meisten Bücher abholen. Wie in der Schulbibliothek werden Zettel aus Innentaschen gezogen. Dann wird ein Vermerk auf dem Laufzettel gemacht, und endlich, endlich, begibt man sich mit der Lektüre in einen Lesesaal der Wahl.

Bevor man die Bibliothek verlässt, gibt man alle Bücher wieder dort ab, wo man sie hergeholt hat. Auf dem Laufzettel werden entsprechende Vermerke gemacht. Hat man etwas kopiert, wird auch die Anzahl der neuerworbenen DIN A4-Seiten auf dem Laufzettel vermerkt. Beim Rausgehen scannt man wieder den Ausweis und gibt den Laufzettel einer Sicherheitsperson. Diese kontrolliert, ob alles Ausgeliehene zurückgegeben worden ist und wirft einen kurzen Blick auf das, was man so bei sich trägt. Hat man nichts geklaut, darf man gehen.

Die Russische Staatsbibliothek in Moskau, Lenin und Touristen

In Moskau in der Lenin-Bibliothek (die jetzt "Russische Staatsbibliothek" heißt, die aber meines Wissens keiner so nennt) funktionert das ähnlich, bloß ist es nicht ganz so kompliziert. Zudem gilt das Kärtchen auch gleich für fünf Jahre. Die Lenin-Bib ist, wenn man reinkommt, ein bisschen wie die Stabi in München: Große breite Treppe, dann eine Halle. In dieser Halle, in der in München oft Ausstellungen sind, stehen in Moskau ungezählte Zettelkästen: Nur Werke der vergangenen zehn Jahre sind nämlich im elektronischen Katalog zu finden. Das Gebäude ist, obwohl es, glaube ich, nicht ewig alt ist, von innen wunderschön. Im ersten Stock gibt es eine rumpelige kleine "Bücherei", in der ungezählte Bücher aus allen möglichen Ländern, in verschiedenen Sprachen, einem mir unverständlichen System nach in Regalen stehen. Überall gucken weiße Pappschilder aus den vollgequetschten Bücherreihen heraus. Auf den Pappschildern stehen handschriftliche Hinweise über die Art der hier aufbewahrten Literatur: "Soziologie", "russische Literatur", "Pädagogik", "ausländische Literatur". Die Gänge sind eng, und überall, wo ein bisschen mehr Platz ist, als ein schlanker Mensch zum hindurchschlüpfen braucht, stapeln sich Kartons mit noch mehr Büchern. Hier darf man wirklich richtig selbst durchgehen und stöbern. Ein Traum.

Aber ich schweife ab. Zurück zum Gebäude: Überall Teppiche, Holz, auf den Fluren Sofas, auf denen die ausgeliehenen Bücher daraufhin überprüfen kann, ob man sie mit in den Lesesaal nehmen soll. An der Information guckt eine Dame grimmig. Zettelkästen stehen auch hier vereinzelt rum, aber auch Touchscreens. An letzteren kann man sich direkt den Zettel ausdrucken lassen, mit dem man ein Buch entleihen möchte. (Datum aber von Hand draufschreiben, und Unterschrift!)

Zettelkästen dienten in vergangenen Zeiten der Literaturrecherche. Ganz sind sie noch nicht ausgestorben.

Überwältigend ist der Lesesaal der Russischen Staatsbibliothek. Hohe Decke, oben an den Wänden ringsum Büsten der Größen des Sozialismus. Dunkle Holzregale voller Wälzer an den Wänden; die Lesetische aus dem gleichen Holz, in zahllosen Reihen angeordnet, erinnern mit ihrem Aufsatz an Sekretäre. Die Leselampen sind nicht im Retrodesign, sie sind Retro: Grüne Glasschirme an Messingarmen, die Glühbirne ist über einen Kippschalter am Tisch vorderhalb der Platte anzuknipsen, direkt vorm Körper. 60er-Jahre-Style. Zumindest am hinteren Ende des Lesesaals gibt es eine kleine Empore, auf der auch wieder Lesetische und Bücherregale stehen. Der Fußboden: Parkett, auf den Hauptwegen Teppiche. Weiche Teppiche, leise Teppiche. Ich glaube, sogar mit Muster. Als ich zum ersten Mal diesen unglaublichen Lesesaal betreten habe, bin ich bass stehengeblieben, und mich überkam ein ganz gemütliches und kribbeliges Gefühl: So etwas Schönes! Schnell reißt es einen allerdings raus aus der Romantik, wenn man zu einem der schönen Sektretär-Lesetische gehen will: Abseits der Teppichläufer verursachen die losen Parkettbrettchen in der Stille des Lesesaals mitunter ein deutliches "klack-klong", wenn man nicht aufpasst, wo man hintritt.

Die Russische Staatsbibliothek hat übrigens einen Ableger in Chimki. Hier befindet sich unter anderem das Zeitungsarchiv Russlands, der Sowjetunion und wahrscheinlich auch des Zarenreichs. Das Ausleih- und Zettelsystem ist hier noch einmal ein anders, man fährt seine Zeitungen nach Lektüre zum Beispiel selber mit einem Wägelchen zum Regal. Ein tolles Erlebnis.Und überhaupt: An Regentagen in Sowjetzeitungen blättern, das ist mit Russischkenntnissen ein Muss. Ans Mitnachhausenehmenwollen denkt man da gar nicht mehr.

Donnerstag, 9. September 2010

Bibliotheken I

In der Grundschule hatten wir ein Mal in der Woche Büchereitag. Da wurden wir geschlossen in einen Klassenraum geführt, der voller Bücher war, und jedeR durfte sich eines ausleihen. Eines. Mein absoluter Favorit war "Ein Kätzchen kommt zur Welt". Ich glaube, ich habe nie ein anderes Buch ausgeliehen. Wie vermerkt wurde, wer da was entliehen hat, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass ich schnell geschnallt habe, dass ich "Ein Kätzchen kommt zur Welt" verlängern konnte. Bis zur vier Mal, glaube ich. Danach muste ich eine Woche warten, bis ich es neu ausleihen durfte.

In der Schule für Größere dann durften wir selbständig in die Bücherei im Schulgebäude. In den Regalreihen stand nicht nur Erbauliches, sondern es gab auch Bücher, die wir für Referate und dergleichen benutzen konnten. Die Gänge mit naturwissenschaftlichem Zeugs haben mich dabei nie angemacht, wen wundert's. Daran, dass die per se interessanten Abteilungen - Sprachliches, Gesellschaftliches, Geschichtliches oder Philosophisches - besonders groß oder gar ansprechend gewesen wären, erinnere ich mich nicht. Vielleicht war ich überfordert von dem System, vielleicht unterfordert, vielleicht auch einfach desinteressiert. In der Bücherei gab es Schubladen mit ungezählten Zetteln drin, alphabetisch geordnet. Da konnte man nach Autoren suchen oder nach Themen. Aber ich fand das überflüssig. Wir haben ja auch so alles gefunden auf den ... hundert? Quadratmetern. Die Schulzeit, das waren schließlich Jahre, in denen Bücher nichts mit der Quälerei zu tun hatten, irgendwelche absurden Theorien zu verstehen. Lesen war ein reines Freizeitvergnügen. Und deshalb hatte ich binnen weniger Jahre auch erst alle Pferdebücher, später dann die historischen und Liebesromane durch. Sie alle standen in Regalen, jedes einzelne konnte man herausnehmen, anfassen, angucken. Ausgeliehen wurden sie ganz einfach mit einer Papierkarte, die jedeR SchülerIn hatte. Wo dieser Büchereiausweis her war, weiß ich nicht. Er war einfach da.
Die Ausleihe ging folgendermaßen vonstatten: In den Buchdeckeln vorne oder hinten steckten in einer kleinen Tasche Leihscheine. Die wurden von der Bibliothekarin herausgenommen, sie trug die Büchereikartennummer darauf ein und steckte den Leihschein in einen langen Karton, an seinen alphabetischen Platz. ("S".) Im Deckel der anderen Buchseite war ein weiterer Zettel angebracht. Bevor man das Objekt der Begierde mit nach Hause nehmen durfte, wurde auf diesem Zettel noch das Rückgabedatum notiert. Und zwar mit einem Stempel. Mit einem Stempel, man stelle sich das vor, bei dem das Datum variierte. Jahrelang war ich fasziniert von so etwas Hochtechnologischem. Wurde man bis zum Abgabedatum nicht fertig mit dem Lesen, so musste man das fragliche Buch rechtzeitig verlängern, indem man es der Bibliothekarin brachte, sodass sie einen neuen Stempel anbringen konnte.

In der Uni verschwand die Zettelwirtschaft. Man bestellte zentral über das Online-Ausleihsystem, und ein bis zehn Tage später lagen die jetzt seltener begehrten, sondern häufiger benötigten Schriften im Regal. Taschen und Jacken draußen lassen, Bücher einsammeln, ggf Schlangestehen, dann kam ein Laser. Der piepte über die Strichcodes in den Büchern, über den auf dem Bibliotheksausweis. (Die Bücherei hieß jetzt Bibliothek. Wohl, weil wir jetzt Gelehrte wurden.) Den schweren Stapel zu Tasche und Jacke balancieren, durchgucken - brauch ich das echt alles? Im Normalfall dann doch erstmal komplett einpacken und die Wälzer im besseren Fall mit in die nächste Kneipe, im schlechteren gleich nach Hause an den Schreibtisch schleppen.

Ein Sonderfall waren sogenannte Bestandsbibliotheken. Ein Graus! Bibliotheken, aus denen man nichts mit ins traute Heim nehmen durfte! Kein Zwischendurch-zum-Kühlschrank-Laufen, kein Rumfläzen auf dem Sofa mit der Lektüre, nein: Still hatte man in der kleinen Institutsbibliothek oder im großen Lesesaal zu sitzen, schweigend sich Notizen zu machen so wie die anderen Studenten auch. Nicht trampeln auf dem Weg zum Klo, nicht zu doll mit dem Block rascheln, kein Essen, kein Kaffee. Still sitzen, lernen. Eigentlich. Denn aus vielen Bestandsbibliotheken konnte man Bücher mit nach Hause nehmen, über Nacht oder sogar übers Wochenende.

Anders in Russland. Hier heißt, soweit ich das verstehe, "Bestandsbibliothek" "Bestandsbibliothek". Kleine Ausnahmen gibt es, aber nicht bei den Großen der Hauptstädte Moskau und Sankt Petersburg. Nur bei den Kleinen, da, wo man sowieso keinen Ausweis braucht, weil man sich vorher telefonisch angemeldet hat. Da, wo sowieso nur einmal die Woche geöffnet ist.

Die Nationalbibliothek in Sankt Peterburg, ein Prunkbau aus sowjetischer Zeit

In die Russische Nationalbibliothek in Sankt Petersburg, einen Prunkbau aus der Sowjetzeit, hat mich meine Zimmernachbarin aus dem Hostel mitgenommen. Und ich war ihr dankbar, denn allein hätte ich keinen Bibliotheksausweis bekommen. Um ein "Tschitatelskij Billet" zu erhalten, muss man in Piter, wie Sankt Petersburg liebevoll genannt wird, nämlich nachweisen, dass man entweder an einer Hochschule eingeschrieben ist oder ein Studium abgeschlossen hat. Weil meine Zimmernachbarin aber in der Bibliothek mit ihrer Dissertation befasst war, kannte man sie dort. Und glaubte uns in der Anmelde-Abteilung, dass ich ein abgeschlossenes Hochschulstudium habe. "Bloß den Nachweis hat sie natürlich nicht dabei", erklärte meine Zimmernachbarin. "Sie ist ja aus Moskau vor dem Rauch geflüchtet." "Schreiben Sie halt irgendwas hin", hat die dicke ältere Frau mit der braungefärbten Dauerwelle und der Brille zu mir gesagt. Ich habe gezögert, kann ja so schlecht lügen. "In welchem Studienjahr sind Sie denn?", versuchte die Anmelde-Bibliothekarin mir zu helfen. "Ähm, also...", wahrscheinlich bin ich auch rot geworden. "Im dritten?", fragte sie auffordernd. "Ähm..., öh... JA!", hatte ich mich endlich überwunden. "Na, dann schreiben Sie's halt da hin", und deutet auf das freie Kästchen. In andere Kästchen musste ich neben Namen und Geburtsdatum auch meine Passdaten und die Angaben auf dem Registrierungsschein, einem für Ausländer hier unabdingbaren Dokument, eintragen. Anschließend wies man mich an, in ein kleines Kabuff zu gehen. Hier den ausgefüllten Zettel vorzeigen, dazu meinen Pass mit Registrierung. Dann wurde ich fotografiert, und im Nullkommanix war eine kreditkartengroßer Bibliotheksausweis mit Bild hergestellt. Gültigkeit: Zwei Wochen, danach lief die Registrierung ab.

In "Bibliotheken II": Wie man dann in die Bib reingeht, was es mit dem Laufzettel auf sich hat, und worin der Charme der Moskauer Lenin-Bibliothek besteht.

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Kaliningrad - Moskau - Straszburg?

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