Donnerstag, 23. September 2010

Fettes Volksspektakel

Mit dem Goldenen Ring komme ich irgendwie noch nicht weiter. Es war zu beeindruckend, um einfach so darüber zu schreiben. Hier deshalb ein Bericht über ein Ereignis, das einen knappen Monat zurückliegt.

Kriegsspektakel westlich von Moskau: In Borodino wird von den Dorfbewohnern einmal im Jahr die historische Schlacht gegen Napoleon nachgestellt.

Was wie ein Ort am Gardasee klingt, in dem man rotweinschlürfend die Seele baumeln lassen kann, ist in Wirklichkeit ein blutiger Meilenstein der russischen Geschichte: In Borodino, einem Dorf rund 120 Kilometer westlich von Moskau, hat die russische Armee unter General Kutusow einst im Vaterländischen Krieg Napoleons Feldzug aufgehalten. Genauer: Ist von der Grande Armée besiegt worden, nach Moskau geflüchtet, hat die Stadt in Brand gesteckt und ist abgehauen. Die Franzosen marschierten nach Moskau, aber der Winter kam, und jene, die nicht in der Schlacht gefallen oder anschließend erfroren waren, zogen sich dahin zurück, wo sie hergekommen waren.* Wie viele Leute nach den zweitägigen Kämpfen Anfang September 1812 tot waren, weiß man nicht genau. 120 000 Russen hatten gegen 130 000 Franzosen gekämpft, unterschiedliche Quellen sprechen von 24 000 bis 58 000 Toten pro Seite. Auch 35 000 Pferde haben das Zeitliche gesegnet, die Kavallerie musste teilweise zu Fuß weitermachen. Zehn Quadratkilometer sanfte, satt grüne Hügellandschaft: Die Redensart „es sieht aus wie auf dem Schlachtfeld“ muss hier im wörtlichen Sinne angewendet worden sein können.

Historische Reiter lenken ihre Pferde in Richtung des Gefallenen-Denkmals

Obwohl immer wieder damit konfrontiert, kann ich die Kriegsbegeisterung der Russen nicht nachvollziehen.

Schon wer klein ist und mal ein Mann wird, übt sich im Schützengraben. Mama dokumentiert's.

Im Vaterländischen und im Großen Vaterländischen Krieg ging es darum, so viel verstehe ich, die Heimat gegen Eindringlinge zu verteidigen. In beiden Fällen ist das unter riesigen Opfern gelungen. (Der Zweite Weltkrieg habe auf sowjetischer Seite rund 40 Millionen Menschenleben gefordert, habe ich oft gehört. Andere Zahlen sind niedriger, liegen aber immer noch bei 20 oder 25 Millionen Toten, darunter viele Zivilisten.) Die Kombination von erfolgreich verteidigter Heimat und schmerzlichem Verlust ist, das ist meine Wahrnehmung, in das russische Nationalgedächtnis und Selbstverständnis eingegangen. Soldaten sind Helden, und über Orte, Daten und Verläufe von Schlachten weiß man gut Bescheid. Wenn vom Krieg die Rede ist, schwingt meistens eine feierliche Stimmung mit.

Das ist wohl ungefähr der Hintergrund, weswegen die Borodiner die 200 Jahre zurückliegende Schlacht gegen Napoleon inszenieren, ähnlich wie die Oberammergauer das Leiden Christi. Nicht gleich hundert Mal hintereinander, sondern nur einmal. Aber dafür jedes Jahr.

Der „Tag Borodinos“ ist ein Volksfest, zu dem Tausende Zuschauer strömen.

Viele Leute waren zu Fuß unterwegs, um sich die nachgestellte Schlacht anzugucken.

Mit der Elektritschka zwei Stunden aus Moskau raus, dann zu Fuß oder mit dem Bus durch grüne, hügelige Landschaft zum Ort des Spektakels. Am Gefallenen-Denkmal spielt Kriegsmusik, Bläser in historischen Kostümen marschieren, und an zahllosen, schnell entlang der Straße aufgebauten Ständen gibt es Zinnsoldaten und anderen Tand zu kaufen.

Das Interesse an Zinnsoldaten ist rege. Im Hintergrund Luftballons. Nicht im Bild, aber um die Ecke: Hüpfburgen für Kinder.

Musiker marschieren feierlich

Damit die lieben Kleinen sich bis zum Beginn des Gemetzels nicht langweilen, stehen Hüpfburgen, röhnradartige aufblasbare Plastikkugeln und andere Attraktionen bereit.

Die Schlacht selbst findet, damit der geneigte Zuschauer auch alles sieht, nicht im gesamten weitläufigen Gelände statt, sondern auf einer vielleicht 500 Meter breiten Ebene, entlang derer Hügel eine gute Zuschauertribüne bilden. Man betritt diese natürliche Tribüne von der Straße aus durch Metalldetektoren. Gleich reiht sich Schaschlikstand an Schaschlikstand. Die Leute sitzen auf Bierbänken an Biertischen und stärken sich für das Spektakel.

Zu einem Volksfest gehört Fleisch.

Essen fassen

Irgendwann begrüßt ein Mann über Mikrophon die Anwesenden, und in einer langen Prozedur halten die Schlachtteilnehmer unten auf der Ebene Einzug. Fußsoldaten, Kavallerie, alle bunt in verschiedenen historischen Kostümen. Der Mikrophonmann stellt sie alle vor. Einzelne russische Einheiten bejubelt das Publikum, das auf den Grashängen von seinen Decken aufgestanden ist.

Und dann geht es los. Mit lautem "puff" "paff" und "buff" schießen „Russen“ und „Franzosen“ mit großen Kanonen aufeinander, galoppieren auf ihren Pferden wild umher, werden in Kämpfe verwickelt, fallen tot um und stecken strohgedeckte Häuschen in Brand.

Die Infanterie am Start

Was gerade genau passiert, erläutert vor dem Hintergrund klassischer Musik der Mikrophonmann: „Die Einheit von Marschall Davout kommt von Westen durch den Wald“, oder so ähnlich. Eine Stunde lang stopfen die „Soldaten“ die Kanonen immer wieder von neuem und schießen damit Rauchringe in die Luft, eine Stunde lang explodieren „Granaten“ und wirbeln Gras und Erde auf. Dann fällt einer vom Pferd (General Kutusow?), und das Spektakel ist zu Ende. Die Laienschauspieler, alles Borodiner oder Mitglieder historischer Vereine der weiteren Umgebung, werden ausgiebig beklatscht, und die meisten Leute machen sich in Richtung nach Hause auf.

Der Brüller war das Folgeprogramm, das verhindern sollte, dass alle gleichzeitig zum Bahnhof strömen: Die Moskauer Miliz gab zu den Klängen von Rammsteins "Sehnsucht" eine Nahkampf-Schau zum Besten. Zonk-Ponk, auf die Fresse, und durch die Luft gewirbelt sind sie. Auf den Gesichtern vieler derer, die noch dageblieben waren, erkannte ich ein feines Grinsen.

Die Moskauer Miliz lieferte eine beeindruckende Vorstellung.

* Irgendwie variieren hier die Angaben zu den Ereignissen direkt nach Schlachtende in unterschiedlichen Reiseführern und verschiedensprachigen Wikipedias. Je nach Version haben die Moskauer selbst oder die Armee die Stadt angezündet, die Russen die Schlacht im Prinzip gewonnen, die Franzosen Moskau angezündet, nachdem sie sich, weil es kalt wurde, nach Frankreich zurückgezogen hatten. Ich finde die von mir gewählte Version einfach am besten. Außerdem ist sie logisch: Schlacht verloren, also weglaufen und alles kaputtmachen, damit der Feind nix kriegt.

Historischer Mann mit historischer Frau. Die historische Frau ist wenige Meter später abgestiegen, weil ihr der olle Damensitz wohl doch nicht ganz behagt hat.

Auswaerts

Kaliningrad - Moskau - Straszburg?

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Russische Flughunde
In Moskau häufiger als anderswo kann man Damen beobachten,...
auswaerts - 23. Okt, 20:58
Aus dem Zusammenhang...
Ulrich Wickert im Interview, SZ Online 22.10.2010 SZ:...
auswaerts - 22. Okt, 22:04
Schöne Zeit!
oh wie schön, dann wünsche ich dir noch ein ganz tolle...
Lady73 - 15. Okt, 22:23
Oh je! Aber immerhin...
Oh je! Aber immerhin bist du angekommen. Das ist mehr,...
Lady73 - 15. Okt, 22:20
Wow, schön!
Schöne Bilder. Und klingt nach einer tollen Zeit!
Lady73 - 15. Okt, 22:17

Zufallsbild

rseg

Suche

 

Status

Online seit 5019 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 6. Jan, 21:56

Credits


Die Logik der Anderen
Goldener Ring
Kaliningrad
Moskau
Rauch aktuell
Riga
Sankt Petersburg
Sonstiges
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren