Donnerstag, 9. September 2010

Bibliotheken I

In der Grundschule hatten wir ein Mal in der Woche Büchereitag. Da wurden wir geschlossen in einen Klassenraum geführt, der voller Bücher war, und jedeR durfte sich eines ausleihen. Eines. Mein absoluter Favorit war "Ein Kätzchen kommt zur Welt". Ich glaube, ich habe nie ein anderes Buch ausgeliehen. Wie vermerkt wurde, wer da was entliehen hat, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass ich schnell geschnallt habe, dass ich "Ein Kätzchen kommt zur Welt" verlängern konnte. Bis zur vier Mal, glaube ich. Danach muste ich eine Woche warten, bis ich es neu ausleihen durfte.

In der Schule für Größere dann durften wir selbständig in die Bücherei im Schulgebäude. In den Regalreihen stand nicht nur Erbauliches, sondern es gab auch Bücher, die wir für Referate und dergleichen benutzen konnten. Die Gänge mit naturwissenschaftlichem Zeugs haben mich dabei nie angemacht, wen wundert's. Daran, dass die per se interessanten Abteilungen - Sprachliches, Gesellschaftliches, Geschichtliches oder Philosophisches - besonders groß oder gar ansprechend gewesen wären, erinnere ich mich nicht. Vielleicht war ich überfordert von dem System, vielleicht unterfordert, vielleicht auch einfach desinteressiert. In der Bücherei gab es Schubladen mit ungezählten Zetteln drin, alphabetisch geordnet. Da konnte man nach Autoren suchen oder nach Themen. Aber ich fand das überflüssig. Wir haben ja auch so alles gefunden auf den ... hundert? Quadratmetern. Die Schulzeit, das waren schließlich Jahre, in denen Bücher nichts mit der Quälerei zu tun hatten, irgendwelche absurden Theorien zu verstehen. Lesen war ein reines Freizeitvergnügen. Und deshalb hatte ich binnen weniger Jahre auch erst alle Pferdebücher, später dann die historischen und Liebesromane durch. Sie alle standen in Regalen, jedes einzelne konnte man herausnehmen, anfassen, angucken. Ausgeliehen wurden sie ganz einfach mit einer Papierkarte, die jedeR SchülerIn hatte. Wo dieser Büchereiausweis her war, weiß ich nicht. Er war einfach da.
Die Ausleihe ging folgendermaßen vonstatten: In den Buchdeckeln vorne oder hinten steckten in einer kleinen Tasche Leihscheine. Die wurden von der Bibliothekarin herausgenommen, sie trug die Büchereikartennummer darauf ein und steckte den Leihschein in einen langen Karton, an seinen alphabetischen Platz. ("S".) Im Deckel der anderen Buchseite war ein weiterer Zettel angebracht. Bevor man das Objekt der Begierde mit nach Hause nehmen durfte, wurde auf diesem Zettel noch das Rückgabedatum notiert. Und zwar mit einem Stempel. Mit einem Stempel, man stelle sich das vor, bei dem das Datum variierte. Jahrelang war ich fasziniert von so etwas Hochtechnologischem. Wurde man bis zum Abgabedatum nicht fertig mit dem Lesen, so musste man das fragliche Buch rechtzeitig verlängern, indem man es der Bibliothekarin brachte, sodass sie einen neuen Stempel anbringen konnte.

In der Uni verschwand die Zettelwirtschaft. Man bestellte zentral über das Online-Ausleihsystem, und ein bis zehn Tage später lagen die jetzt seltener begehrten, sondern häufiger benötigten Schriften im Regal. Taschen und Jacken draußen lassen, Bücher einsammeln, ggf Schlangestehen, dann kam ein Laser. Der piepte über die Strichcodes in den Büchern, über den auf dem Bibliotheksausweis. (Die Bücherei hieß jetzt Bibliothek. Wohl, weil wir jetzt Gelehrte wurden.) Den schweren Stapel zu Tasche und Jacke balancieren, durchgucken - brauch ich das echt alles? Im Normalfall dann doch erstmal komplett einpacken und die Wälzer im besseren Fall mit in die nächste Kneipe, im schlechteren gleich nach Hause an den Schreibtisch schleppen.

Ein Sonderfall waren sogenannte Bestandsbibliotheken. Ein Graus! Bibliotheken, aus denen man nichts mit ins traute Heim nehmen durfte! Kein Zwischendurch-zum-Kühlschrank-Laufen, kein Rumfläzen auf dem Sofa mit der Lektüre, nein: Still hatte man in der kleinen Institutsbibliothek oder im großen Lesesaal zu sitzen, schweigend sich Notizen zu machen so wie die anderen Studenten auch. Nicht trampeln auf dem Weg zum Klo, nicht zu doll mit dem Block rascheln, kein Essen, kein Kaffee. Still sitzen, lernen. Eigentlich. Denn aus vielen Bestandsbibliotheken konnte man Bücher mit nach Hause nehmen, über Nacht oder sogar übers Wochenende.

Anders in Russland. Hier heißt, soweit ich das verstehe, "Bestandsbibliothek" "Bestandsbibliothek". Kleine Ausnahmen gibt es, aber nicht bei den Großen der Hauptstädte Moskau und Sankt Petersburg. Nur bei den Kleinen, da, wo man sowieso keinen Ausweis braucht, weil man sich vorher telefonisch angemeldet hat. Da, wo sowieso nur einmal die Woche geöffnet ist.

Die Nationalbibliothek in Sankt Peterburg, ein Prunkbau aus sowjetischer Zeit

In die Russische Nationalbibliothek in Sankt Petersburg, einen Prunkbau aus der Sowjetzeit, hat mich meine Zimmernachbarin aus dem Hostel mitgenommen. Und ich war ihr dankbar, denn allein hätte ich keinen Bibliotheksausweis bekommen. Um ein "Tschitatelskij Billet" zu erhalten, muss man in Piter, wie Sankt Petersburg liebevoll genannt wird, nämlich nachweisen, dass man entweder an einer Hochschule eingeschrieben ist oder ein Studium abgeschlossen hat. Weil meine Zimmernachbarin aber in der Bibliothek mit ihrer Dissertation befasst war, kannte man sie dort. Und glaubte uns in der Anmelde-Abteilung, dass ich ein abgeschlossenes Hochschulstudium habe. "Bloß den Nachweis hat sie natürlich nicht dabei", erklärte meine Zimmernachbarin. "Sie ist ja aus Moskau vor dem Rauch geflüchtet." "Schreiben Sie halt irgendwas hin", hat die dicke ältere Frau mit der braungefärbten Dauerwelle und der Brille zu mir gesagt. Ich habe gezögert, kann ja so schlecht lügen. "In welchem Studienjahr sind Sie denn?", versuchte die Anmelde-Bibliothekarin mir zu helfen. "Ähm, also...", wahrscheinlich bin ich auch rot geworden. "Im dritten?", fragte sie auffordernd. "Ähm..., öh... JA!", hatte ich mich endlich überwunden. "Na, dann schreiben Sie's halt da hin", und deutet auf das freie Kästchen. In andere Kästchen musste ich neben Namen und Geburtsdatum auch meine Passdaten und die Angaben auf dem Registrierungsschein, einem für Ausländer hier unabdingbaren Dokument, eintragen. Anschließend wies man mich an, in ein kleines Kabuff zu gehen. Hier den ausgefüllten Zettel vorzeigen, dazu meinen Pass mit Registrierung. Dann wurde ich fotografiert, und im Nullkommanix war eine kreditkartengroßer Bibliotheksausweis mit Bild hergestellt. Gültigkeit: Zwei Wochen, danach lief die Registrierung ab.

In "Bibliotheken II": Wie man dann in die Bib reingeht, was es mit dem Laufzettel auf sich hat, und worin der Charme der Moskauer Lenin-Bibliothek besteht.
bico - 13. Sep, 18:31

Kindheitserinnerungen

Ja, die gute alte Bücherei... in der KGS. Leute, ich kann euch sagen, sie ist immer noch so, wie sie mal war! Und es gibt auch noch den Büchereitag in der Grundschule! MAnchmal ist es so, das man in sein eigenes Kindheits-Leben zurückgebeamt wird, wenn man selbst Kinder hat.

Nur gibt es dort mittlerweile auch Plastik-Ausleihkarten, die Bücher besitzen ebenfalls Strichcodes, mankann ONLINE von zu Hause aus Bücher suchen, vormerken und sogar verlängern. Und das alles mit der Ausweis-Nr. und seinem Geburtsdatum über die Homepage der Gemeinde! Ist das nicht ein wahnsinniger Schritt in das moderene Zeitalter? Auch wenn die Bücherei noch so aussieht und riecht wie vor 20 Jahren! ;)

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